Wenn Ärzte nichts finden und Patienten verzweifeln: "Irgendwann bleibt die Psyche als Auslöser über"

Wie kommunizieren Körper und Psyche? Und warum zeigen sich emotionale Belastungen oft auch mit körperlichen Beschwerden? Das ist das Fachgebiet von Alexander Kugelstadt, der als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Berlin arbeitet. Der Mediziner musste in jüngeren Jahren am eigenen Leib erfahren, welche Macht Gedanken und Gefühle auf den Körper haben können. Als Schüler erkrankte er an der Lunge und wurde operiert.
"Die Auswirkungen eines Eingriffs am eigenen Körper und die Isolation im Krankenhaus waren für mich viel einschneidender, als das biologisch erklärbar ist", erinnert sich Kugelstadt. "Als aus Sicht der Ärzte alles erledigt war, hatte ich noch immer Schmerzen und Atemprobleme." Um vollständig gesund zu werden, habe er erst wieder lernen müssen, seinem Körper zu vertrauen. Diese Erfahrung beeinflusste auch seine spätere Berufswahl. Heute weiß der Mediziner: "Nicht selten sendet die Seele noch SOS, wenn es dem kranken Organ schon wieder besser geht."
In seinem neuen Buch "Dann ist das wohl psychosomatisch!" klärt er über die Wechselwirkungen zwischen unseren Organen und unseren Gedanken und Gefühlen auf – und schildert, warum es Patienten mit psychosomatischen Beschwerden oft schwer im Gesundheitssystem haben.
Herr Kugelstadt, Sie sagen: Jede Krankheit ist psychosomatisch und hat mal mehr Behandlungsbedarf auf der Körperebene, mal mehr auf der psychischen Ebene. Was würde wohl ein Chirurg dazu sagen?
Ich meine damit: Alle Leidenszustände, egal ob sie eher psychisch sind oder sich eher körperlich zeigen, betreffen Körper und Psyche als Einheit. Unser medizinisches System unterscheidet nach wie vor in Krankheiten der Organe, die sogenannte Körpermedizin, und in Krankheiten der Psyche. Eigentlich ist es aber ganz anders. Die beiden Ebenen sind so stark miteinander verwoben, dass sie praktisch nicht trennbar sind. Natürlich ist dieses Wissen für Mediziner der einzelnen Fachgebiete unterschiedlich gut zugänglich und anwendbar. Von einem Chirurgen erwarten wir in erster Linie, dass er uns hilft, wenn wir mit einem gefährlichen Tumor ins Krankenhaus kommen. Er soll zum Skalpell greifen und ihn herausoperieren – also das organische Problem lösen. Das kann er gut. Aber er fokussiert sich wahrscheinlich weniger auf das Emotionale, also auf das, was die Erkrankung mit uns macht.
Welche psychischen Belastungen sind zu erwarten?
Die Auswirkungen können ganz unterschiedlich sein. Ein Tumor verursacht häufig Ängste. Betroffene fühlen sich oft erschöpft oder können in eine depressive Episode geraten.
Als Mediziner sehen sie oft aber auch den umgekehrten Fall: Psychische Belastungen machen sich mit körperlichen Symptomen bemerkbar. Welche psychosomatischen Beschwerden begegnen Ihnen am häufigsten?
Erschöpfung wird oft genannt. Viele Betroffene berichten auch über Bauchschmerzen, Verdauungsbeschwerden oder sie haben kaum noch Appetit und müssen manchmal nach dem Essen sogar erbrechen. Schwindel spielt auch häufig eine Rolle. Hinzu kommen Schmerzen an verschiedenen Körperstellen oder auch ein sogenannter Ganzkörperschmerz. In diesem Fall reagieren Gewebe, Muskeln und auch Haut empfindlich auf Berührung. Hautärzte berichten auch oft über Hautveränderungen. Ein Beispiel ist etwa Juckreiz, bei dem durch Kratzen teilweise auch Wunden entstehen.
Wie kann die Psyche so starke Auswirkungen auf den Körper haben?
Körper und Psyche stehen über verschiedene Verbindungen miteinander in Kontakt. Da wären zum einen das vegetative Nervensystem und das Stresssystem. Registriert das Gehirn eine Gefahr, werden Impulse blitzschnell über kleine Nervenbahnen weitergegeben und Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet. Kommen diese Botenstoffe an den Organen an, verändern diese sofort ihr Funktion: Das Herz beginnt plötzlich zu rasen, die Hände werden schwitzig und feucht. Eine andere Verbindung zwischen Psyche und Körper ist das Immunsystem. Es sorgt dafür, dass wir zum Beispiel in sehr arbeitsintensiven Phasen nach Möglichkeit nicht krank werden. Mit der Zeit werden wir aber anfällig. Fällt der Stress schließlich ab, werden wir krank und bekommen vielleicht eine Erkältung. Häufig passiert das zum Beispiel dann, wenn wir im Urlaub sind und uns erholen wollen. Das langfristigste System ist aber die Epigenetik. Wenn wir zum Beispiel längere Zeit unter starkem Druck standen, Traumatisches erfahren haben oder soziale Ausgrenzung erleben mussten, können sich bestimmte Gene an- und abschalten. Dies kann zum Beispiel Einfluss darauf haben, wie gut wir mit Stress umgehen können. Und langfristig ist dieses System vor allem deshalb, weil sich die Veränderungen sogar bei unseren Nachfolgegenerationen bemerkbar machen können. Menschen, deren Eltern ein schweres Trauma erlebt haben, können Stress und Belastungen oft schlechter regulieren. Übrigens ist erwiesen, dass psychische Traumata wie emotionaler Missbrauch und Vernachlässigung sogar das Risiko von körperlichen Erkrankungen wie Herzinfarkten, Krebs und Süchten erheblich erhöhen.
Was schätzen Sie: Wie oft werden körperliche Beschwerden von der Psyche ausgelöst?
Das ist häufig der Fall. Man schätzt, dass 30 bis 50 Prozent der Besuche in den Hausarztpraxen auf das Konto von psychosomatischen Beschwerden gehen. Bei diesen Besuchen spielen dann in erster Linie seelische Bedingungen eine Rolle, weniger eine klare organische Ursache.
Das klingt viel. Wird das in Deutschlands Hausarztpraxen ausreichend berücksichtigt?
Es ist natürlich schwer, für die große Menge von Hausärzten zu sprechen, die wir in Deutschland haben. Das Bild ist sehr gemischt. Aus meiner Sicht, der ich ja auch Hausärzte in psychosomatischer Grundversorgung unterrichte, sehe ich schon ein wachsendes Interesse an dem Themengebiet und sehe auch, dass Mediziner gute Erfahrungen damit machen, wenn sie die psychosomatische Ebene mehr zulassen. Leider werden in unserem Gesundheitssystem Eingriffe nach wie vor besser vergütet als Gespräche. Das führt zu einer Schieflage. Da ist die Verlockung groß, doch eher Röntgenbilder zu wiederholen und Medikamente zu geben, anstatt dem eigentlich dahinterliegenden Problem auf die Spur zu kommen.
Dem Patienten dürfte das wenig nutzen.
Naja, der Patient ist manchmal kurzfristig ganz zufrieden. Es ist ja schließlich etwas passiert. Er denkt sich: 'Ich war beim Arzt, wurde untersucht, habe ein Medikament verschrieben bekommen.' Das kann zunächst Linderung bringen. Wenn aber tatsächlich eine psychosomatische Störung hinter den Beschwerden steckt, bei der zum Beispiel seelische Konflikte oder Traumatisierungen eine Rolle spielen, hilft das langfristig meist wenig. Es gibt zwar eine Spontanheilungsrate. Aber meistens suchen Patienten den gleichen Arzt oder andere Ärzte nach einiger Zeit wieder auf und kommen nicht weiter. Dieses Ärzte-Hopping sehe ich bei vielen Patienten mit psychosomatischen Leiden. Ein Teufelskreis.
Was macht das mit den Patienten?
Wenn Patienten von Arzt zu Arzt gehen, durchlaufen sie meist auch verschiedene Fachbereiche. Jeder Spezialist guckt dann mit seiner eigenen Lupe auf die Beschwerden – und findet entweder nichts oder nur ein paar Kleinigkeiten. Der Patient versucht dann meist verzweifelt, das Puzzle zusammenzusetzen: Der Internist sagt dies, der Hautarzt das, und der Orthopäde hat vielleicht festgestellt, dass die Wirbelsäule ein klein wenig schief steht. In der Behandlung bringt das aber oft nicht den durchschlagenden Erfolg. Mit der Zeit baut sich ein enormer Druck auf.
Eine frustrierende Situation für Betroffene. Als Mediziner mit psychosomatischem Schwerpunkt haben Sie sicher oft mit diesen Patienten zu tun. Wie lässt sich die Situation auflösen?
Zunächst einmal: Bei uns in der Praxis läuft vieles anders ab. Wir nehmen uns Zeit, planen oft schon für den ersten Termin eine halbe bis ganze Stunde ein. Ich versuche mich als Arzt auch nicht auf den Druck einzulassen, den diese Patienten verspüren. Der Druck ist ja Teil des Problems. Dadurch kommt oft schon Entspannung in die Situation. Andere Patienten reagieren mit Abweisung oder Aggressivität und denken vielleicht: 'Jetzt sitze ich hier beim Psycho-Arzt und soll reden.' Aber wenn man dann als Mediziner die Ruhe behält und nicht abweisend oder aggressiv reagiert, dann kommt man im Gespräch meist doch rasch auf die dahinterliegenden psychischen Belastungen. Und dann merken auch die Patienten oft schnell, dass es der Bereich ist, in dem man womöglich etwas Gutes bewegen kann.
Warum fällt es einigen Menschen schwer zu akzeptieren, dass ihr Leiden womöglich psychisch bedingt sein könnte?
Unsere Gesellschaft ist sehr beschleunigt und leistungsorientiert. Und ich glaube, dass psychische Leiden in der öffentlichen Wahrnehmung oft noch mit Schwäche verbunden werden. Das ist viel stigmatisierender als der rein körperliche Bereich, wo das Stigma – etwa ein gebrochenes Bein – deutlich erkennbar, praktisch belegbar, ist. Psychische Leiden sind für Außenstehende dagegen oft nicht greifbar, da äußerlich nicht erkennbar.
Wo endet ein psychosomatisches Leiden? Und wo beginnt eine psychische Krankheit?
Es gibt verschiedene Definitionen. Aber man kann sagen: Unter psychosomatischen Beschwerden versteht man allgemein Reaktionen des Körpers auf psychische Belastungen, darunter auch messbare Veränderungen wie ein hoher Blutdruck oder ein schneller Herzschlag. Auch Veränderungen in der Verdauung sind ja durchaus objektiv zu bewerten. Psychische Leiden machen sich dagegen eher auf emotionaler Ebene bemerkbar: Die Stimmung ist gedrückt, es können Angstgefühle auftreten, vielleicht auch selbstabwertende Gedanken. Bei den meisten Patienten treten aber sowohl psychosomatische wie auch psychische Beschwerden auf. Es ist selten, dass ein Patient entweder nur das eine oder das andere hat.
Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Tatsächlich sehen wir in der Praxis etwas mehr Frauen als Männer mit psychosomatischen Beschwerden. Warum, wissen wir nicht genau. Das kann zum einen damit zu tun haben, dass Frauen diese Art von Beschwerden häufiger haben. Es kann aber auch damit zu tun haben, dass Männer damit noch deutlich weniger zum Arzt gehen und versuchen, das auf irgendeine Weise mit sich selbst auszumachen, zum Beispiel mit Alkohol. Ich schätze, dass es wahrscheinlich eine Mischung aus beiden Faktoren ist.
Für Frauen birgt das aber auch die Gefahr, dass ihre Beschwerden von Ärzten vorschnell auf die psychosomatische Ebene geschoben werden. Frauen mit Endometriose, die unter Wucherungen von Gebärmutterschleimhaut-ähnlichem Gewebe leiden, berichten das beispielsweise oft.
Das ist auf jeden Fall ein Problem. Nur weil man annimmt, jemand hat etwas mit Psychosomatik zu tun, heißt das ja nicht, dass man frei ist von allen organischen Ursachen. Das ist ein sehr sensibles Thema. Und wir sind in der Praxis sehr davon ab zu sagen: 'Das ist jetzt auf jeden Fall psychosomatisch. Sie brauchen jetzt nicht mehr zu allen anderen Ärzten zu gehen.' Früher hat man noch häufiger versucht, diese beiden Ebenen so klar zu trennen. Aber das ist eine große Gefahr und auch wirklich nicht mehr "up to date". Als Mediziner kann man nur jeweils prüfen: Welche Faktoren finde ich wofür? Und wo kann ich ansetzen? Als Patient wäre ich immer skeptisch, wenn ein Arzt mir sagen würde: 'Ihr Leiden ist auf jeden Fall psychosomatisch.' Das ist eigentlich nicht seriös, weil die körperliche Ebene immer mitschwingt und auch eine große Rolle spielen kann.
Sollten körperliche Auslöser immer abgeklärt werden, ehe man eine psychosomatische Therapie beginnt?
Die optimale Abfolge wäre eigentlich, beides parallel zu untersuchen. Das nennt sich biperspektivische Diagnostik und sollte meiner Meinung nach unbedingt die Medizin der Zukunft werden. Der Patient bekommt so signalisiert: Du bist ein Mensch, und beide Ebenen – Körper wie Psyche – sind gleichwertig. Als Mediziner kann man beispielsweise nach Belastungen im Leben oder Krisen fragen und gleichzeitig eine Magenspiegelung machen und das Blut des Patienten auf Entzündungswerte hin untersuchen. In der Realität ist es natürlich noch oft so, dass Patienten mit Beschwerden die einzelnen Fachbereiche durchlaufen: Sie gehen zum Neurologen, zum Orthopäden, zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Und wenn nichts gefunden wird, bleibt dann irgendwann die Psyche als Auslöser über, wie so ein Rest. Die psychosomatisch erkrankten Patienten fühlen sich dann oft so, als würden sie in die "Schublade Psyche" kommen. Dabei ist das wirklich nicht so, und es kann auch sein, dass sich im weiteren Verlauf körperliche Ursachen zeigen. Als Arzt muss man deshalb sehr vorsichtig sein, sich vorschnell auf entweder den einen oder den anderen Auslöser festzulegen.
Wohin können sich Betroffene wenden, wenn keine körperliche Ursache für ihr Leiden gefunden wird?
Der erste Ansprechpartner kann ein gut informierter Hausarzt sein, der offen für die Thematik ist, oder ein Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Krankenkassen helfen oft auch bei der Suche nach einem Ansprechpartner in Wohnortnähe. Darüber hinaus bieten viele psychosomatische Kliniken ambulante Sprechstunden an. Da kann man als Patient mit den bisherigen Befunden hingehen und um eine Einschätzung bitten.
Die aktuelle Zeit stellt viele Menschen vor besondere Herausforderungen: Da wäre die Angst um die eigene Gesundheit, dazu kommen vielleicht Sorgen um den Job und Isolation. Mediziner fürchten deshalb, dass Angststörungen häufiger auftreten könnten oder vorbelastete Menschen noch stärker in bestehende Probleme gedrängt werden. Sehen Sie dafür Anzeichen?
In den letzten Monaten habe ich tatsächliche eine deutliche Zunahme an neuen Patienten gesehen. Viele hatten Bedarf nach einem vertrauensvollen Gespräch, fühlten sich einsam, waren isoliert oder hatten Ängste – zum Beispiel vor dem, was noch kommt. Andere berichteten über das Gefühl von Perspektivlosigkeit, einer Art innerer Leere.
Warum bringt uns die gegenwärtige Lage so aus dem Gleichgewicht?
Bei vielen Patienten ist durch die Pandemie etwas weggebrochen, das ihnen vorher Halt gegeben hat, zum Beispiel ein Ehrenamt oder andere sinnstiftende Tätigkeiten in Kontakt mit anderen. Als Menschen sind wir es gewohnt, unseren Alltag konstruktiv und strukturiert zu gestalten. Wenn das plötzlich nicht mehr geht, kann das tatsächlich starke Ängste auslösen. Viele Menschen haben aktuell auch mit Entgrenzung zu kämpfen. Die eigenen vier Wände wurden plötzlich zum Home-Office umfunktioniert, in dem man womöglich auch noch die Kinderbetreuung stemmen muss. Äußere Grenzen, etwa eine klare Trennung in Freizeit und Beruf, sind auch wichtig für unsere inneren Grenzen. Vielen Menschen fällt es schwer, sich abends im Wohnzimmer zu entspannen, wenn sie dort am nächsten Tag anstrengende Arbeit verrichten müssen. Unser Gehirn ist kulturell sehr stark auf diese Trennung geprägt.
Was hilft?
Das Wichtigste ist sicher, zunächst einmal anzuerkennen, dass wir dieses Problem nun haben und uns etwas fehlt. Vielleicht ist das der Austausch mit den Kollegen in der Kaffeepause, der kurze Plausch am Kopierer. Diesen Mangel zuzulassen und anzuerkennen, ist ein wichtiger erster Schritt. Gut ist sicher auch, wenn man in den Bereichen aktiv wird, die man selbst gestalten kann: Dass ich vielleicht beginne, meine Wohnung etwas umzugestalten, vielleicht versuche, das Home-Office ein wenig räumlich abzugrenzen. Dass ich Arbeitsunterlagen nicht dort liegen lasse, wo ich abends entspannen möchte. Und dass ich in mich hineinhorche und mich frage, was mein Körper jetzt eigentlich braucht, welchen Gefallen ich ihm tun kann. Für den einen ist das vielleicht Bewegung, für den anderen Entspannung, eine Tageslichtlampe für das Home-Office oder ein Gespräch unter Freunden. Sich um sich selbst zu kümmern und für sich positive Veränderungen herbeizuführen, ist immer eine gute Idee.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sich Angst in der aktuellen Pandemie auf ganz unterschiedliche Weise zeigen kann. Was haben Sie beobachtet?
Angst schreiben wir aktuell eher den Menschen zu, die ständig einen Mundschutz tragen und größere Feiern absagen. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die scheinbar unerschrocken sind, vielleicht sogar gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen und allgemein eher unvorsichtig wirken. Aber auch dieses Verhalten kann eine Form von Angstabwehr sein – dass man praktisch genau das macht, was einen eigentlich ängstigt. Durch diese Art von Angstverarbeitung haben Betroffene zunächst einmal das Gefühl von Kontrolle und Stärke. Sie knicken scheinbar nicht ein, lassen sich den Mundschutz nicht vorschreiben, machen exakt das Gegenteil von allen anderen. Ich habe solche Patienten auch gesehen. Wenn man mit ihnen spricht, fällt dann aber oft die Fassade, und man merkt: Beide Lager – die offensichtlich Ängstlichen und die scheinbar Unerschrockenen – beschäftigen die gleichen Themen. Es ist die Angst vor dem, was noch kommt. Der eine sorgt sich vielleicht eher vor einer Ansteckung, der andere vor dem Ende der Demokratie. Beides sind Ängste vor dem, was das Leben noch für uns bereithält, nur auf unterschiedliche Weise verarbeitet. Die Bühne, die Art der Inszenierung mag sich unterscheiden. Aber das Dahinterliegende ähnelt sich sehr.
Was würden Sie sagen: Was war Ihr bislang größtes Erfolgserlebnis?
Ich erinnere mich an viele Patientengeschichten, aber besonders gut an einen Patienten mit einer ausgeprägten sexuellen Funktionsstörung. Im entscheidenden Moment verlor er stets seine Erektion. Beim Urologen hatte er bereits alle möglichen körperlichen Ursachen abklären lassen. Im Gespräch schilderte er mir, dass er in früher Kindheit stets mit Zurückweisung zu kämpfen hatten, sowohl von den Eltern, als auch von den Geschwistern. Deswegen konnte er Intimität kaum zulassen. Das "Sich-Einlassen" auf eine andere Person fiel ihm schwer. Je mehr wir darüber sprachen, desto besser konnte er benennen, was in den Momenten des scheinbaren "Versagens" – so nannte er das – mit ihm passierte. An dem einzelnen Körpersymptom zeigte sich praktisch eine ganze Lebensgeschichte. Wenn Patienten diese Verknüpfung selber auch empfinden und damit einen neuen Umgang finden, dann werden solche Symptome ganz schnell unwichtig. Die Fixierung auf das einzelne Organ lässt nach, der Blick weitet sich. Das sind eigentlich die schönsten Momente. Ich denke dann oft: Das ist fast wie in der Chirurgie. Mit gezielten Maßnahmen kann man sehr viel Gutes bewirken.
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